Buchvorstellung von Catherine Letourneur, JLU Gießen
Nasengruß und Wangenkuss
So macht man Dinge anderswo
geschrieben von Anne Kostrzewa und illustriert von Inka Vigh
S. Fischer Verlag – Sauerländer Verlag 2017
Altersempfehlung: ab 8 Jahre
Preis: 14,99 Euro
Worum geht es in dem Buch?
Was wir verstehen, macht uns keine Angst. Was uns keine Angst macht, lässt uns verstehen.
Daraus kann vieles entstehen: z.B. Perspektivübernahme, Empathie, Solidarität und kulturübergreifende Verbundenheit.
Das Sachbilderbuch Nasengruß und Wangenkuss versucht, kindgerechte Erklärungen für Fragen unserer Welt und unseres Zusammenlebens zu finden. Dabei ist es so formuliert, dass noch viel Platz für andere, zusätzliche Perspektiven bleibt, die dann individuell gefunden und ergänzt werden können.
So werden beispielsweise in der Beantwortung der Frage, warum Menschen migrieren, unterschiedliche Gründe für eine Auswanderung erklärt und was dies im Besonderen für Kinder bedeuten kann. In vielen Themenbereichen (Umgangsformen, Religionen, Geschenke, Feste, Spiele) werden die kindlichen Leser*innen bereits in der Überschrift direkt angesprochen, so dass sie zum Aktivieren von eigenen Erfahrungen angeregt werden (Was isst du? Freust du dich über Geschenke? Was glaubst du?). Besonders in den herausgestellten kulturellen Unterschieden wird deutlich, dass diese nebeneinander gleichwertig stehen können – nicht nur auf einer Bilderbuchseite. Kinder können sich in Ritualen und/oder Religionen wiederfinden und lernen, dass Unterschiede in unseren Geschichten und unserem Leben dazugehören und eine diverse Gesellschaft aufrichtig abbilden.
Aber auch die Gemeinsamkeiten haben ihren Platz, wie z.B. in den Grundgefühlen, die unabhängig von kulturellen Prägungen alle Menschen fühlen und erkennen können, mit denen allerdings sehr unterschiedlich umgegangen wird. So werden individuelle Reaktionen auf Gefühle transparent und nachvollziehbarer. Auch, dass wir alle mindestens eine Sprache sprechen, mit der Stimme, den Händen, schriftlich oder durch Gesten, trägt Gemeinsamkeiten und Unterschiede in sich, die mögliche Missverständnisse nachvollziehbar machen und ihnen vorbeugen. So bedeutet die Daumen-hoch-Geste im eurozentrischen Verständnis eine positive Rückmeldung/Bekundung/Bewertung. In Australien oder Russland hingegen bedeutet sie eine klare Beleidigung. An einigen Stellen spricht die Autorin die Leser*innen am Ende eines Themenkomplexes nochmals direkt an, wie „Frag‘ doch mal deine Eltern, was sie heute noch genauso machen, wie sie es aus ihrer Kindheit kennen“ oder „Sind in deiner Klasse Kinder aus anderen Ländern? Wenn du wissen möchtest, welche Muttersprache sie gelernt haben, kannst du sie einfach fragen.“
Wie kann man das Buch im Unterricht nutzen?
Neben den Hinweisen zur weiteren Auseinandersetzung durch die Autorin, kann für den unterrichtlichen Einsatz des Sachbilderbuches zunächst die Beschäftigung mit der eigenen Lerngruppe im Vordergrund stehen. Die Lehrkraft kann antizipieren und herausfinden: Welche verborgenen Kenntnisse an Festen, Ritualen, Sichtweisen und Perspektiven gibt es in den Geschichten der einzelnen Schüler*innen. Was wartet bei den Schüler*innen vielleicht schon lange darauf, in einem annehmenden Rahmen erzählt zu werden?
Denn zu jedem der Themenkomplexe können alle Kinder eigene Erfahrungen/Meinungen/Ansichten einbringen und lernen, diese gleichwertig – auch in Dissonanz – nebeneinander stehen zu lassen.
Neben dem überfachlichen Kompetenzerwerb im Bereich der personalen und sozialen (Weiter)Entwicklung könnten alle Kompetenzbereiche des Faches Deutsch gefördert werden, indem z.B. einzelne Schüler*innen oder Gruppen kulturelle Besonderheiten recherchieren, zusammentragen, aufbereiten und sich gegenseitig präsentieren. Denkbar wäre es z.B. auch, eine internationale Spielkartei zu entwickeln und die Textsorte Anleitung kennenzulernen und anzuwenden. Dabei sollten Spiele aus den Kulturen der Klassengemeinschaft möglichst im Mittelpunkt stehen. Die Erprobung in der Praxis darf nicht vergessen werden und kann den Deutschunterricht ritualisierend begleiten.
Außerdem könnten Schüler*innen durch die inhaltlichen Impulse des Sachbilderbuches selbst Fragen an die Welt formulieren, Expert*innen oder Familienmitglieder einladen, Interviews führen und eine Art interkulturelle Klassenzeitung herausgeben oder einen Podcast aufnehmen. Dafür können Artikel geschrieben, Schriftproben gesammelt, Witze aus anderen Kulturen und (fremd)sprachliche O-Töne gesammelt werden. Eine sprachliche und soziale Reflexion ohne Wertung kann den Lernprozess stetig begleiten und dafür Sorge tragen, dass die individuellen Lebensgeschichten und Erfahrungen und das Teilen dieser miteinander in gegenseitiger Wertschätzung stattfinden.
Insgesamt trägt das Sachbilderbuch die große Chance in sich, Impulse dafür zu geben, den eigenen kulturell erworbenen Rahmen in einen größeren Kontext einzuordnen und die eigenen Vorstellungen von „richtig“ und „falsch“ zu relativieren. Dies könnte als Prävention zum Entstehen von Vorurteilen als Basis von rassistischen Weltdeutungstendenzen verstanden werden und sogar dabei helfen, diese aufzulösen.
Was können sich Lerner:innen aneignen? – Kompetenzziele
Die Kinder …
• nutzen unterschiedliche Medien zur Recherche,
• entwickeln Fragen für ein Interview, führen dieses mit Unterstützung durch und schreiben einen Text,
• erforschen grundlegende Anforderungen verschiedener Sachtextsorten,
• lernen unterschiedliche Textfunktionen im authentischen Anwendungszusammenhang kennen,
• strukturieren, formulieren und überarbeiten Texte und beachten dabei den Schreibanlass und Textsortenmerkmale (Anleitung – Spielkartei; Bericht/Reportage oder Portraits als Unterkategorien der Zeitungsartikel),
• konzipieren einen kurzen Podcast und fertigen eine Audiodatei an,
• nehmen viele verschiedene Perspetiven ein, entwickeln Empathie und differenzieren ein Verständnis für Diversität,
• …
Kompetenzbereiche des Faches Deutsch
Vor und mit anderen angemessen sprechen und adressatengerecht kommunizieren, kommunikative Ziele verfolgen.
Sich im Medienangebot orientieren, Texte in unterschiedlicher medialer Form erschließen und nutzen, Texte anlassbezogen auswählen,
Texte zweckmäßig und übersichtlich gestalten, Texte planen, strukturieren, formulieren und überarbeiten, allgemeine Textmerkmale, Adressaten, den Schreibanlass, Schreibfunktion/Textsorte sowie verschiedene Formen des Schreibens und die Anwendung von Schreibstrategien kennenlernen und nutzen.
Sprachliche Verständigung und sprachliche Vielfalt untersuchen
Sprechen und Zuhören
Lesen – Sich mit Texten und anderen Medien auseinandersetzen
Schreiben – Texte verfassen
Sprache und Sprachgebrauch untersuchen
Vgl. KMK 2022, Bildungsstandards für das
Fach Deutsch Primarbereich
Verfasserin: Catherine Letourneur, 2023