Der Junge aus der letzten Reihe

Der Junge aus der letzten Reihe

„Früher gab es hinten in meiner Klasse einen leeren Stuhl. Er war gar nichts Besonderes. Er war nur leer, weil niemand auf ihm saß. Aber dann, genau drei Wochen nach den Ferien, begann für mich und meine drei besten Freunde die aufregendste Zeit unseres bisherigen Lebens. Und alles fing mit diesem Stuhl an.“

O. Raúf 2018

Die Geschichte rund um eine Gruppe Freundinnen und Freunde wird aus der Sicht einer Ich-Erzählerin geteilt, die uns mitnimmt in die aufregende Zeit und die besonderen Erlebnisse der Kinder rund um das Kennenlernen eines neuen Klassenkameraden.

Ein neunjähriges Mädchen erzählt, wie sich ihr Leben verändert, als Ahmet in ihre Klasse kommt. Ein Junge, der vieles erstmal unbeantwortet lässt, obwohl die Protagonistin gleich ganz konkrete Fragen (11 Stück) an ihn hat. Der Junge aus der letzten Reihe bleibt zunächst still und geheimnisvoll. Seine Traurigkeit allerdings ist offensichtlich und bringt seine neuen Freunde dazu, nicht aufzugeben und immer wieder auf ihn zuzugehen, ihn vor anderen Kindern und Lehrkräften in Schutz zu nehmen, ihm den Rückzug zu gewähren, den er braucht und nach etwas zu suchen, was Ahmet in der fremden Umgebung das Gefühl von Heimat geben könnte (Granatäpfel).

Ahmet erzählt seine Geschichte von der Flucht mit seinen Eltern und seiner Schwester nach und nach, mit Hilfe von anderen Menschen und Bildern, die er zeichnet und die vermuten lassen, welchen schrecklichen Fluchtweg ihn nach England gebracht hat, wo er nun allein angekommen ist und bei einer Pflegemutter wohnt.

Aber wo ist Ahmets Familie? Und was erfährt seine neue beste Freundin da eines Morgens im Bus durch ein Gespräch zwischen Erwachsenen über die sich bald schließenden Grenzen zu England? Jetzt muss gehandelt werden, damit Ahmet überhaupt noch eine Chance hat, seine Eltern jemals wieder zu sehen.

Die Freund:innen schmieden drei Pläne als Geheimmissionen. Erstens soll ein Brief an den Premierminister geschrieben, zweitens ein öffentlicher Suchaufruf in den Zeitungen veröffentlicht und drittens eine Petition an den Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs geschickt werden. Aber alle Ideen erweisen sich als zu zeitaufwendig, sollen die Grenzen doch schon zeitnah geschlossen werden. Glücklicherweise kommt unsere Erzählerin dann auf die tollste, aufregendste und vielleicht auch gefährlichste Idee der Welt: Die Kinder MÜSSEN mit der Queen über Ahmet und seine Familie sprechen. Dafür muss ein Brief nach London zum Buckingham Palace gebracht werden und natürlich im besten Fall persönlich mit der Queen gesprochen werden.

Und so macht sich eine Delegation der Freund:innen verbotenerweise vormittags auf den Weg nach London, zum Palast der Queen und kommt zu unerwarteter Berühmtheit, die am Ende auch Ahmet hilft, zumindest mit seinen Eltern wieder zusammenkommen zu können.

Das ganze Abenteuer ist nachzulesen und soll hier nicht vorweggenommen werden. Nur so viel noch: Onjali Q. Raúf gelingt es in ihrer Geschichte viele Perspektiven darzustellen und spart auch nicht die Widerstände und rassistischen Vorurteile von Kindern und Erwachsenen aus.
Ganz im Gegenteil: Sie erzählt uns sehr realistisch, kind- und erwachsenengerecht eine vielschichtige Geschichte von Flucht, Trennung, Verlust, Angst, Traurigkeit, Mut, Freundschaft, Mitgefühl und Menschlichkeit und der Hoffnung nach Frieden in uns allen.

Außerdem werden hier die Erfahrungen mit Flucht aus neuen Perspektiven gezeigt: aus der von Kindern, die der Komplexität der Fluchterfahrung eines anderen Kindes ganz selbstverständlich, mit einem großen Herzen und Tatendrang zur Unterstützung ohne Berührungsängste begegnen.

Dieses Buch schenkt uns Leser:innen auch noch Anregungen zum Nachdenken über stereotypisierte Wörter in unserem Sprachgebrauch zu Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, zum Zugehen auf Menschen aus vielen Herkunftsländern und zum Zusammensetzen unseres eigenen „Lebenspuzzles“.

„Und alles dank eines Jungen,
 der kam und sich in die letzte Reihe der Klasse setzte
und der mich seine Freundin sein ließ.“
 O. Raúf 2018

Ideen für den Unterricht – Praxisanregungen?

Der mehrfach ausgezeichnete Roman, der der Kinder- und Jugendliteratur zugeordnet werden kann, kann sowohl ab Klasse 3 als auch in der Sekundarstufe 1 genutzt werden, um als Klassenlektüre oder in einem Literaturprojekt das Thema Flucht oder Migration im Klassenverband zu bearbeiten, Anknüpfungspunkte zu finden und individuelle Vorstellungen zum literarischen Lerngegenstand zu entwickeln. Außerdem kann die Originalversion auch im Englischunterricht einen Platz finden.

Das Buch fokussiert das Erleben der Kinder einer Schulklasse, die ein anderes Kind und dessen gerade gemachten Erfahrungen auf der Flucht aus Syrien nach Europa kennenlernen. Dies macht das Buch so besonders, denn erstmals wird hier aus den Blickwinkeln der Mitschüler:innen erzählt und kindgerecht gezeigt, was Interkulturalität bedeutet und welche Chancen im eigenen Wachsen damit verbunden sind.                                                   

Nebenbei wird eine Abenteuergeschichte erzählt, die mit vielen spannenden Momenten zum Weiterlesen motiviert und authentisch diverse Charaktere und Figuren zur Identifikation oder Abgrenzung anbietet.

Am Ende des Buches findet sich eine persönliche Ansprache der Autorin an alle lesenden Kinder (und Erwachsene), komprimierte Informationen zu Fluchtbewegungen auf unserer Erde, Anregungen zur Selbstreflexion und persönliche Anmerkungen.

Methodische Impulse für den Aufbau fachbezogener und überfachlicher Kompetenzen:

Ein eigenes Lebenspuzzle mit Stationen/wichtigen Menschen/Fähigkeiten etc. anfertigen (Hinweise dazu auch am Ende des Buches).

Mit Hilfe der Kapitelüberschriften eigene Vorstellungen entwickeln, antizipieren und als kreative Schreibanlässe nutzen.    

Aussagen/Vorurteile kritisch hinterfragen und die eigene Meinung begründen lernen.              

Sprache und Sprachgestaltung aufmerksam wahrnehmen und mit individuellen Bedeutungen füllen (Rückzugsraum? Flucht? Grenzübergänge? Granatäpfel? Vorurteile? Rassismus?).    

Sensibilisierung für eine respektvolle Sprache im Kontext Flucht ermöglichen.                                    

Was möchte ich über ein anderes Kind wissen? Entwicklung von individuell „wichtigen“ Fragen.       

Mobbingprozesse in schulischen Kontexten thematisieren – Strukturen offenlegen.                             

Briefe/Mail schreiben/ Anliegen an Politik aus Kinder- und Jugendlichenperspektiven formulieren.

Eigene Ressourcen für interkulturelle Vorhaben entwickeln, skizzieren und/oder konkretisieren.   

Aus der Perspektive der literarischen Figuren handlungs- und/oder produktionsorientiert tätig werden (Rollenspiel am Buckingham Palace, Vertonung der Zeichnungen aus dem Buch, Schreiben von Gedichten zu Stichworten aus dem Buch, eigene Pläne im Abenteuer entwickeln und vorstellen).

Einen Brief an die Hauptfigur, die Autorin und/oder Illustratorin schreiben und das Buch persönlich bewerten, Lieblingsstellen benennen, abschreiben und präsentieren

Kompetenzbereiche des Faches Deutsch

Ko-Konstruktion des gemeinsamen literarischen Lerngegenstandes in literarischen (Klassen-)Gesprächen

Präsentationen von handlungs- und                                                produktionsorientierten Lernaufgaben  + Feedbackprozesse

Handlungs- und Produktionsorientierung
zum Aufbau eines Textverstehens zur individuellen Sinnkonstruktion im Rezeptionsprozess 

Zur Luteratur schreiben
(kreative Textidee entwickeln und aufschreiben, Sequenzen für Rollenspiele entwickeln, argumentative Texte verfassen, Fragen formulieren, Briefe schreiben …)

Wirkung von Wörtern aus dem Sprachkontext Flucht kritisch hinterfragen

Sprechen und Zuhören




Lesen – Sich mit Texten und anderen Medien auseinandersetzen




Schreiben – Texte verfassen


Sprache und Sprachgebrauch untersuchen und reflektieren

Vgl. KMK 2022, Bildungsstandards für das
Fach Deutsch Primarbereich